Er sah und glaubte

von Andreas «Boppi» Boppart

Wie wirkt Gott? Wie darf er wirken? Und wie nicht? Ich habe in meinem Leben eines gelernt: Gott lässt sich nicht in ein Schema pressen. Und schon gar nicht passt er sich meinem Bild von ihm an. Vielmehr lädt er mich dazu ein, immer neu zu entdecken, wie unendlich viel «weiter» und vielschichtiger er ist.

25.06.2024

Meine Seele lebt von den Momenten, in denen sich Himmel und Erde küssen, Augenblicke, in denen ich Erfahrungen mache, die ich mit einem gesunden Grad an Überzeugung dem Gott der Bibel zuschreibe. Was mich dabei überrascht, aber eigentlich nicht überraschend ist: Viele meiner Gotteserfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass Gott sich überhaupt nicht an meine Spielregeln zu halten scheint, wo er auftauchen und wie er wirken darf – und wo und wie nicht. Stattdessen ist er stetig daran, mich herauszufordern, meinen eigenen Horizont zu erweitern.

 

Gott ausserhalb meiner Komfortzone

Ein erstes grosses Learning in dieser Thematik ist, dass ich es inzwischen geradezu liebe, mich selbst immer wieder out of my comfort zone zu bewegen, um Gott an Orten zu entdecken, die meinen bisherigen Vorstellungen so gar nicht entsprechen. Ich habe realisiert, wie oft ich mich am Ort und am Rahmen gestossen habe, während Gott schlicht und ergreifend die Herzen betrachtet. So habe ich an den unterschiedlichsten Orten – von den Philippinen über den Nahen Osten und Bosnien-Herzegowina bis nach Tansania – Menschen erlebt, die von Gott auf unkonventionelle Weise ergriffen worden sind, obwohl sie in meinen Augen am «falschen Ort» gebetet oder Gebete in der «falschen Form» verrichtet haben. Aber immer wieder gab mir Gottes Geist unmissverständlich zu verstehen, dass er nicht auf das Äussere schaut, sondern auf das aufrichtig und sehnsüchtig nach ihm suchende Herz. Sein gnädiges Ansehen einer Person, das letztlich ja auch mir zugute kommt.

Hier ein paar Streiflichter:

Ein nüchterner Gottesdienst in einer europäischen Stadt, wo ich für die Predigt in einer wild zusammengewürfelten internationalen Community eingeladen war: Atmosphäre staubtrocken und steif, chaotisch und für mich als Schweizer latent anstrengend. Doch Gott schien das weder zu kümmern noch abzuschrecken. Er war da.

Ein Predigtdienst im Heilsarmee-Gottesdienst in einer grösseren Stadt: null Ambiente, ein knappes Dutzend vom Leben gezeichnete Besuchende, der Worship kläglich und selbst bei einstimmigen Liedern automatisch mehrstimmig. Aber Jesus sang mit.

In der Grabeskirche in Jerusalem: Unverständlich für viele in unseren Breitengraden wälzen sich da die Menschen in Massen am vermeintlichen Salbungsstein von Christus vorbei, in der Hoffnung, etwas von Gottes Geist mit nach Hause nehmen zu können. Wie ich als kritischer Beobachter die Szenerie betrachtete, war es, als rede Gottes Geist in mein Herz, dass er – entgegen meinem Verstehen – diesen Menschen gerne begegne, weil deren ehrliche Sehnsucht in Gottes Augen mehr wiegt als die Richtigkeit meiner sauberen Dogmatik.

In einem berühmten bosnischen Pilgerort für Maria, was so manchen evangelischen Christen die Nackenhaare sträuben lässt: Bewegt habe ich dort miterlebt, wie vier Teenager sich an mir vorbei drängten, um in der vordersten Reihe inbrünstig betend auf die Knie zu fallen. Es ist derselbe Ort, an dem gleich mehrere meiner Freunde Jesus Christus begegnet waren, woraus in der Folge eine der lebendigsten Missionsbewegungen in Österreich entstand. Gott scheinen die evangelischen Bedenken herzlich wenig zu kümmern.

In einem charismatischen Setting, alles darauf ausgerichtet, dass Menschen Heilung erleben: Einem skeptischen Beobachter konnte leicht der Verdacht aufkommen, dass Gott hier als Heilungsmaschine verzweckt wird, die auf Knopfdruck reagieren sollte. Doch ihn schien das nicht zu stören, denn Menschen haben ihn offensichtlich erlebt.

 

Gott ist grosszügiger

Die Liste liesse sich noch lange weiterführen und hat zu einem zweiten Learning geführt: Gott hat mich mit seiner Grosszügigkeit immer neu überrascht. Er steht den unterschiedlichen Ausdrucksformen unseres Glaubens viel weitherziger gegenüber, als wir Christinnen und Christen es untereinander tun. Ich bin deshalb zur Überzeugung gelangt, dass unser Reden über ihn und das gegenseitige Beurteilen von Erfahrungen mit ihm von viel mehr Demut geprägt sein sollten. Denn die Gotteserfahrungen anderer können von den meinen stark abweichen. Doch diese Abweichungen bedeuten noch lange nicht, dass die Erfahrungen «falsch» sind. Sondern eher, dass mein Gottesbild noch zu kleinkariert ist und dass ich mich öffnen darf für Gottes unfassbare Grösse, für seine vielfältige Art, sich zu offenbaren, sein unergründliches Wesen, das er immer wieder für uns Menschen aufblitzen lässt und das sich in und an Christus für uns greifbar kristallisiert hat.

 

Gott im Andersartigen sehen

Natürlich mag jemand die Frage aufwerfen: «Was aber, wenn bei all den Erfahrungen, die du beschreibst, Christus und die Verkündigung von ihm verfälscht sind?» Ich glaube, dass wir gut daran tun, selbst in dieser Hinsicht vornehme Zurückhaltung walten zu lassen. Denn wie oft ist das, was wir für «einen anderen Christus» halten, nur meiner Geschichte, meiner begrenzten Erfahrungswelt, meiner Perspektive auf das Kreuz geschuldet? Es sollte nicht entscheidend sein, ob mein Gegenüber dieselben Worte benutzt, in allen Belangen zu einem deckungsgleichen Bibelverständnis gekommen ist, ähnliche Vorlieben für christliche Rituale und Liturgien hat oder dieselben Glaubenserfahrungen teilt. Darum versuche ich als drittes Learning, in meinen Begegnungen immer wieder zu entdecken, ob und wo ich in meinem Gegenüber Gott erkennen kann, ob derselbe Geist in uns lebt und welche Reich-Gottes-Früchte ich in seinem Leben ausmachen kann. Dies im demütigen Wissen darum, dass wir auf denselben Christus blicken können, es aber von verschiedenen Seiten aus tun – und sich deshalb unsere Erfahrungen und theologischen Ansätze nicht kongruent übereinanderlegen lassen.

 

Gott an uns geschehen lassen

Ein viertes Learning für mich ist, dass Gotteserfahrungen nicht machbar sind. So können zwei Personen, die im selben Moment das Gleiche sehen und erleben, davon unterschiedlich berührt werden. Ein Beispiel dafür sind Petrus und Johannes, die am Morgen nach der Auferstehung von Jesus das leere Grab inspizieren (Johannes 20,1-10). Vers 9 beschreibt, dass die Jünger bis zu dem Zeitpunkt noch nicht verstanden hatten, dass ihr Rabbi sterben und wiederauferstehen würde. Wenn wir nun von Petrus lesen, wie er in das Grab hineingeht und die Leinentücher und das Schweisstuch sieht, scheint das bei ihm nichts weiter ausgelöst zu haben. Doch als danach Johannes in die Grabhöhle geht und genau dieselbe Szenerie erblickt, heisst es – und das ganz unaufgeregt: Er sah und glaubte. Ich liebe diese schlichte Beschreibung. Sie macht deutlich: Eine Gotteserfahrung hat nicht damit zu tun, was wir äusserlich sehen und erleben – sondern damit, was dabei letztendlich in uns drin geschieht.

 

Gott ist mit uns auf einer Reise

Ein weiteres Learning ist die Tatsache, dass sich im Lauf unseres Lebens die Art unserer Gotteserfahrungen ändert oder weiterentwickelt, und das kann verunsichern. Manchmal geschieht es sogar, dass frühere Erfahrungen in der Erinnerung verschwimmen, verblassen oder uns fremdartig erscheinen. Wenn wir sie anhand unseres heutigen Glaubensstandes beurteilen, kann das dazu führen, dass wir sie abwerten, ihnen misstrauen oder sie wegpsychologisieren und rückwärtszweifeln: Habe ich das wirklich so erlebt? War das Gott oder einfach den Emotionen des Moments geschuldet? Hatte mir da tatsächlich der Himmel etwas zufallen lassen, oder war das einfach Zufall? Mir hat folgende Perspektive geholfen: Anstatt frühere Erfahrungen generell als nichtig oder «daneben» zu erklären, lasse ich sie einfach als das stehen, was sie damals waren: tiefe, glückselige Momente, die wir damals gebraucht hatten, um zu glauben. Und wer sagt denn, dass Gott uns nicht auch gemäss unserer Glaubensentwicklung Dinge zufallen lässt? Gleichzeitig denke ich, dass Gott mir heute mehr und anderes zumutet als noch meinem 18-jährigen Ich. Dass er mich ermutigt und sagt: «Du bist an einem anderen Ort auf deiner Glaubensreise. Ich erwarte von dir, dass du anders glaubst. Du brauchst das oder jenes nicht mehr. Du erlebst mich anders und dein Glaube ist differenzierter und komplexer geworden, aber deshalb nicht weniger echt.»

 

Mich und meine Erfahrungen Gott überlassen

Ein letztes Learning zum Schluss: Gott kann sich uns im Tun und Nichttun offenbaren. Im lauten Sturm oder im leisen Säuseln. In grossen Emotionswogen oder einem nüchternen Gedanken. In einem eingeübten Glaubensritual oder im Zerbruch – und in der Heilung – eines Gottesbildes. Die Frage ist am Ende, ob ich Gott zugestehe, ausserhalb meines Denkens und Glaubens, meines bisherigen persönlichen Erlebens und Nichterlebens zu wirken und zu sein. Ob ich ihm erlaube, mit anderen einen anderen Erfahrungsweg zu gehen als mit mir. Ob ich mich ihm ganz überlasse. Was ich dabei bewahren will, ist nicht ein bestimmtes Gottesbild, sondern ein sich nach ihm sehnendes Herz.

Dabei ist es entspannend zu wissen, dass seine Sehnsucht nach mir noch einmal ungleich grösser ist als meine. Und er sie ungebrochen lebt. Das gibt mir Raum, neugierig zu bleiben. Mit offenen Augen leben, um zu entdecken, wann, wo und wie er bei mir auftaucht. Egal, wie unspektakulär und ungewohnt es sich für mich anfühlen mag. Auf dass es auch von mir heissen darf: «Er sah und glaubte.»

 

Zum Weiterdenken

  • Wie steht es um meine Grosszügigkeit gegenüber Gott?
  • Wie darf Gott für mich und für andere sein?
  • Wo stehe ich an? Was begehrt in mir so stark auf, wenn ich fremden Gotteserfahrungen und Glaubensüberzeugungen anderer Menschen ausgesetzt bin?
  • Wo gibt es Abwehrreflexe, deren Überwindung sich lohnen würde?
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Text // Andreas «Boppi» Boppart Er ist Leiter von Campus für Christus Schweiz. Er arbeitet oft in internationalen Teams und ist auch nach Jahren immer wieder überrascht, wie viele Dinge man nur schon aufgrund des kulturellen Backgrounds unterschiedlich sehen kann.
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