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Peter Höhn |
Es ist der 17. Dezember 1988, kurz nach Mitternacht. Schwerverletzt schneidet man Roland Schmidli aus den Trümmern seines VW Scirocco. Im Vollrausch eingeschlafen ist er ausgangs Weiach in eine Birke gerast. Sein Leben hängt an einem seidenen Faden – aber wird ihm zweifach neu geschenkt.
Man bringt den 28-Jährigen mit Blaulicht ins Spital nach Bülach. 18 Frakturen allein im Gesicht. Drei Ärzteteams operieren über 15 Stunden. Man klappt ihm das ganze Gesicht weg, um die Knochen besser zusammenflicken zu können. Dann wird das Gesicht wieder drübergelegt und alles zurechtgerückt. «Darum habe ich heute noch keinerlei Falten», sagt der 63-Jährige schmunzelnd, als er mir in seiner Werkstatt in Neerach seine dramatische Lebensgeschichte erzählt.
Der Dorfschreck von Rafz
«Ich hatte seit der Oberstufe ein Problem mit Trinken, war in Gruppierungen geraten, die brutal mit Trinken und Kiffen unterwegs waren, wollte selbst ein Powertyp sein und Macht ausüben. Ich war grossgewachsen, und in Rafz, wo ich wohnte, als Dorfschreck berüchtigt. Wer anderer Meinung war, bekam meine Fäuste zu spüren. Selbst Kollegen habe ich zusammengeschlagen. Es gefiel mir auf seltsame Weise, anderen Schaden zuzufügen, und ich genoss das Gefühl, wenn die Leute Angst vor mir hatten. Auch mein Vater – er arbeitete als Abteilungsleiter bei Bührle – war schwer alkoholabhängig. Manchmal musste ich sogar ihn zusammenschlagen, wenn er gegen unsere Mutter gewalttätig wurde. Er starb, als ich 20 war.
Die Mutter war eine gute Seele, vielleicht war sie fast zu barmherzig. Sie hatte einen Job in der Holzverarbeitungsindustrie in Rafz, arbeitete hart, um unser vom Alkoholkonsum knappes Familienbudget aufzubessern, und räumte jeweils nach unseren wüsten Partys zu Hause alles ohne Klage auf.
Nach der Schule machte ich eine Lehre als Küfer und arbeitete dann in der VOLG-Kellerei. Mit dem Trinken wurde es nicht besser, im Gegenteil. Da ich keinen Chef hatte, konnte ich mich an den Weinfässern problemlos selbst bedienen. Bis 1 Liter pro Tag. Der Alkohol half mir, meine sozialen Hemmungen abzubauen und überhaupt unter die Leute zu gehen. Doch die Sucht spitzte sich immer mehr zu – bis zu jenem Unfall im Dezember 1988. Ich hatte schon eine Flasche Cognac intus, als ich von der Brauerei in Stadel losfuhr; ich wollte noch im Bären Fisibach vorbeischauen. Doch dann, in der Kurve ausgangs Weiach, donnerte ich mit 130 Sachen in jene Birke und landete im Spital. Ein Wunder, dass ich überlebte, ja, schon nach einem Monat wieder nach Hause konnte. Auch das rechte Auge, das praktisch blind gewesen war, öffnete sich nach drei Wochen wundersam wie ein Rollladen, selbst die Hornhautverkrümmung war weg.
Kommen Sie mir nicht damit!
Ich selbst jedoch war der Alte geblieben, ging wieder in den Ausgang, rauchte, trank – und war depressiv. Drei Monate später, in der Nachbehandlung beim Hausarzt – ich wohnte inzwischen in Neerach – redete mir Dr. S. nach der offiziellen Behandlung ins Gewissen: ‹Herr Schmidli, wenn sie so weiterfahren, werden sie’s nicht mehr lange machen.› Dann nahm er eine Gideon-Bibel hervor, legte sie mir auf den Tisch und sagte: ‹Aber das hier hat schon manchem geholfen!› Ich habe abgewehrt und ausgerufen, er solle mir nicht damit kommen. Aber er meinte nur ganz freundlich: ‹Nehmen sie es einfach mal mit!› Ich nahm die Bibel und ging.
Wieder zwei Monate später, es war der 20. Mai 1989, wollte ich wie gewohnt in den Keller runter und Wein holen. Doch da war ein innerer Impuls, der mich zurückhielt. Stattdessen schlug ich die Bibel auf und stiess auf die Stelle in Johannes 1,4: In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Da kam es ganz seltsam über mich – wie wenn du aus dem Nebel in die Sonne auftauchst. Auf einmal wusste ich: Jetzt geschieht irgendetwas Gewaltiges mit mir. Es gibt Gott, er ist zu mir gekommen. Drei Tage später ging ich wieder zum Arzt und sagte: ‹Ich habe keinen Alk angerührt und nicht geraucht, die Depression ist weg.› Dr. S. freute sich und meinte: ‹Sie sind frei, das ist Gott!›
Ein heiliger Ort
Dabei hatte ich nicht mal gebetet. Es ist einfach an mir geschehen. Es hat mir gedämmert. Plötzlich machte das Leben Sinn. Das Einzige ist, dass ich dem Impuls gefolgt und nicht in den Keller gegangen war. Wenn man leer ist – und die Leere aushält und zulässt –, kann Gott wirken. Das habe ich auch später immer neu erlebt.
In den folgenden vier Monaten, ich war noch in der Rehaphase, ging ich dreimal die Woche auf die Rigi und suchte Gottes Nähe. Auf dem Dossen setzte ich mich jeweils unters Gipfelkreuz auf die Bank und las die Evangelien, die Briefe, die Psalmen und Sprüche. Es war wie ein heiliger Ort, den Gott mir zeigte. Es war eine unglaubliche Zeit. Wie oft habe ich geweint vor Freude, die Liebe Gottes aufgesogen und immer mehr erkannt, was Jesus für mich getan hat. Es waren wie Flitterwochen mit dem Herrn. In diesen Wochen der Alleinzeiten mit dem Zimmermann von Nazareth wurde mir seine Gnade unendlich gross. Viel gebetet habe ich nicht, mehr gedankt und in Ehrfurcht Gottes Grösse bestaunt. Hier ist mir auch Sprüche 1,7 sehr kostbar geworden: Der Anfang der Weisheit ist die Ehrfurcht vor Gott. Auch später suchte ich diesen kostbaren Ort auf der Rigi immer wieder mal auf.
Nach der Rehazeit ging ich für kurze Zeit zurück in die VOLG-Kellerei, bekam aber bald den Eindruck, ich solle mich als Holzküfer selbständig machen. Eine unerwartete Erbschaft verschaffte mir das nötige Startkapital. Weil ich als Küfer arbeitete, hatten verschiedene Leute Angst, ich könnte in Sachen Trinken rückfällig werden. Aber ich habe nie mehr einen Zug zum Alkohol verspürt. Ich kann gar nicht mehr. Irgendwie erfüllt mich der Geist Gottes genug.
Grünes Licht
1993 lernte ich in der New-Life-Teestube Bülach, wo ich jeden Freitag mitmachte, die Frau meines Lebens kennen. Es ist Anna-Maria aus Peru, die in der Schweizerischen Indianermission SIM arbeitete und damals für ein paar Wochen in der Schweiz auf Urlaub war. Wir sind uns nähergekommen, haben zusammen die Bibel gelesen und uns verliebt. Eigentlich hatte ich Angst, dass mir die Liebe zu Gott durch einen Menschen geraubt werden könnte, aber ich bekam grünes Licht. Wir heirateten Ende 1993 und haben 1998 einen Sohn bekommen.
Beruflich wurde es 1995 mit der Selbständigkeit finanziell knapp. Darum bewarb ich mich als Lagerist beim Werkzeugunternehmen Oeschger in Kloten. Schon nach zwei Wochen konnte ich dort eine freigewordene Stelle als Revisor für die Schulwerkstätten der Schweiz übernehmen. Über 28 Jahre mache ich nun diese Arbeit, die mich total erfüllt, kontrolliere die Holzwerkstätten der Schulen von Sta. Maria bis Lausanne, mache Weiterbildungskurse für Lehrpersonen in Holzbearbeitung und komme mit vielen Menschen ins Gespräch – auch über den Glauben. Ich hätte mir keinen besseren Job wünschen oder aussuchen können. Da hatte ganz klar Gott seine Hand im Spiel.
Raum schaffen für Gottes Gnade
Überhaupt staune ich, was Gott alles geschenkt hat, wenn ich auf mein Leben zurückschaue. Es ist wirklich alles Gnade. Es kommt nur darauf an, dass ich diese Gnade zulasse, sie sozusagen erlaube. Früher war ich selber aktiv, heute schaue ich mehr darauf, dass ich Gott nicht mit eigenen Vorstellungen im Weg stehe, was er hier tun müsste, sondern ihm Raum schaffe, das zu tun, was das Beste ist. Vor Jahren gab es einen Streit in der Firma wegen der Raumzuteilung. Ich betete im Keller, dass einfach das geschehen möge, was Gott im Sinn hat. Das Resultat war, dass ich vom Untergeschoss ins 3. OG in einen helleren und grösseren Raum umziehen konnte. Am Morgen begleitet mich oft die Liedzeile ‹Vor mir lit offnigs Land, und Du begleitisch mich. Dini Gnad, die wohnt a jedem Ort.› Ich glaube und vertraue, dass Gott für mich und für jeden von uns offenes Land hat, wo seine Gnade wohnt, und wir voll Vertrauen in das hineinschreiten dürfen, was er für uns jeden Tag vorbereitet hat.
Vor zwei Jahren ist meine Mutter gestorben. Sie hat das Puppenmuseum in Buchberg SH aufgebaut. Ich betete, dass ich am Sterbebett noch einen Moment mit ihr allein sein kann, und das hat sich dann wunderbar ergeben. Ich konnte ihr Psalm 108 vorlesen – Deine Gnade reicht, so weit der Himmel ist, und deine Treue, so weit die Wolken gehen – und die Lasten ihres Lebens Jesus abgeben. Sie hat meine Hand gedrückt und durfte im Frieden mit Gott einschlafen.
Manchmal begegne ich noch alten Kollegen und Kolleginnen aus der Schulzeit. Die einen wundern sich über den ‹Stündeler›. Andere, die ich früher als Christen drangsaliert habe, freuen sich. Wieder andere können es fast nicht glauben, dass der Unhold von damals so sanftmütig geworden ist. Erwähnen möchte ich noch, dass da meine betende Grossmutter war. Sie hat im Hintergrund wohl ganz entscheidend dazu beigetragen, dass sich mein Lebensweg zum Guten gewendet hat.»
Roland Schmidli erzählt seine Geschichte unaufgeregt und gradlinig, ohne grosse Worte. Man spürt ihm an, er lebt aufgehoben in Gott. Natürlich macht er sich seine Gedanken, wie es in zwei Jahren nach seiner Pensionierung weitergeht, aber er weiss: Gottes Gnade wird ihn auch dann begleiten. «Dank ihr wird es nie langweilig!»
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