Der Erdnussmann

von Peter Höhn

In einer Sklavenhütte kam er zur Welt. Diskriminierung zeichnete seinen Lebensweg. Doch George W. Carver wurde als äusserst erfinderischer Botaniker zum Retter der verarmten Landwirtschaft im Süden der USA. Und damit gleichzeitig zum Vorkämpfer für die Würde und Rechte der Afroamerikaner.

05.03.2023

1865, mit dem Ende des amerikanische Bürgerkriegs, wurde die Sklaverei in den gesamten Vereinigten Staaten rechtlich abgeschafft. Die Afroamerikaner lebten grundsätzlich in Freiheit, doch Armut, Demütigungen und Ungerechtigkeit sollten noch lange anhalten.

 

«Verwaistes Kind einer verachteten Rasse»

Etwa ein Jahr zuvor, 1864, wurde George W. Carver in Diamond, Missouri, geboren. Als Sohn der Sklaven Giles und Mary, die der Familie Carver angehörten, wurde er einfach «Carver’s George» genannt. Sein leiblicher Vater starb noch vor Georges Geburt, und als der Junge eine Woche alt war, wurden er und seine Mutter von Sklavenräubern entführt. Die Carvers konnten das Baby George freikaufen, aber die Mutter blieb verschollen. Der erwachsene Carver sagte später, er habe sein Leben als «verwaistes Kind einer verachteten Rasse» begonnen.

George, der von den Carvers als eines ihrer Kinder grossgezogen wurde, war oft krank, und man dachte, dass er kaum älter als 20 werden würde. Doch der schmächtige Junge, der sich für harte körperliche Arbeit nicht zu eignen schien, zeigte von Kindheit an nicht nur einen zähen Lebenswillen, sondern auch ein unbändiges Interesse an der Natur, an Gartenarbeit – und am Glauben. 

In einem Brief Jahrzehnte später schrieb Carver über seine Hinwendung zu Gott. Er war damals kaum 10: «Gott kam einfach eines Nachmittags in mein Herz, als ich allein auf dem Dachboden unserer grossen Scheune war, während ich Mais schälte, um ihn zur Mühle zu tragen und zu Mehl zu mahlen. Ein lieber, kleiner, weisser Junge, einer unserer Nachbarn, etwa in meinem Alter, kam an einem Samstagmorgen vorbei und erzählte mir beim Spielen, dass er morgen früh in die Sonntagsschule gehen würde. Ich wollte unbedingt wissen, was eine Sonntagsschule ist. Er sagte, dass dort Lieder gesungen werden und gebetet werde. Ich fragte ihn, was ein Gebet sei. Ich weiss nicht mehr, was er sagte; ich erinnere mich nur, dass ich, sobald er weg war, auf den Dachboden kletterte, mich neben das Kornfass kniete und betete, so gut ich konnte. Ich weiss nicht mehr, was ich gesagt habe. Ich weiss nur noch, dass ich mich so gut fühlte, dass ich mehrere Male betete, bevor ich aufhörte … Das war meine einfache Bekehrung, und ich habe versucht, den Glauben zu bewahren.»

 

«Gott hat eine Aufgabe für dich»

Mit etwa 12 Jahren fasste Carver den Entschluss, eine zehn Meilen entfernte Schule zu besuchen, denn es gab an seinem Wohnort keine staatlichen Schulen für schwarze Kinder. Mit dem Einverständnis seiner Pflegeeltern, aber völlig auf sich allein gestellt, machte er sich auf den Weg nach Neosho. Es war jedoch Samstag und die Schule geschlossen. Da begegnete er auf der Suche nach einer Bleibe der Wäscherin Mariah Watkins, die zusammen mit ihrem Mann Andrew den Jungen freundlich aufnahm. Er stellte sich als «Carver’s George» vor, aber Mariah sagte: «Du bist eine eigene Person. Von jetzt an bist du George Carver!» Schon bald spürte «Tante» Mariah, die selbst eine gläubige Christin war, dass Gott seine Hand auf dem Jungen hatte. Eines Tages schenkte sie ihm eine Bibel und sagte: «George, Gott hat eine Aufgabe für dich. Du musst alles lernen, was du kannst, und dann alles, was du gelernt hast, an unser Volk weitergeben.»

George war wissbegierig und begann, die Bibel zu lesen – eine tägliche Gewohnheit, die ihm bis an sein Lebensende Kraft gab. Daneben lernte er alles, was der Lehrer aus Neosho ihm beibringen konnte. Doch wie sollte es weitergehen? Als Afroamerikaner hatte Carver es schwer, über eine Grundausbildung hinauszukommen. In Kansas verweigerte man ihm aufgrund seiner Rasse den Zugang zu einem College. Schliesslich konnte er sich in Iowa für ein Kunststudium einschreiben. Dabei bemerkte seine Lehrerin Etta Budd, wie gut er Pflanzen malte, und sie ermutigte ihn, Botanik zu studieren. 1891 war Carver der erste Schwarze, der die heutige Iowa State University besuchte und 1896 einen Masterabschluss machte. Carver – der sich schon früher die Mittelinitiale W. für Washington zugelegt hatte – setzte seine Studien über Pflanzen und ihre Krankheiten fort, erwarb sich als Botaniker Ansehen und wurde schliesslich der erste schwarze Dozent der Universität. 

Gleichzeitig gingen ihm die Worte von Mariah Watkins nach: «Gib das Gelernte an dein Volk zurück.» 

 

«Ich biete ihnen harte Arbeit an»

Als kurze Zeit später ein Brief vom Tuskegee-Institut in Alabama eintraf, in dem Professor Carver gebeten wurde, den Schwarzen des Südens neue Methoden der Landwirtschaft beizubringen, wusste er deshalb sofort, dass dies die Aufgabe war, auf die Gott ihn die ganze Zeit vorbereitet hatte. Der Leiter des Tuskegee-Instituts, Booker T. Washington, schrieb an George Carver: «Ich kann Ihnen kein Geld, keine Stellung und keinen Ruhm bieten. Ich biete Ihnen stattdessen Arbeit an – harte, harte Arbeit – die Aufgabe, ein Volk aus der Erniedrigung, der Armut und der Verschwendung zur vollen Persönlichkeit zu führen.»
Von Beginn an nahm George Carver das Ziel von Tuskegee ernst, nicht nur Fachwissen weiterzugeben, sondern den ganzen Menschen zu erziehen. Viele der ersten Studenten waren ja nur eine oder zwei Generationen von der Sklaverei entfernt und mussten sich mehr als nur Chemie oder Landwirtschaft aneignen: Sie mussten lernen, wie man in einer wettbewerbsorientierten und rassistisch geprägten Welt überlebt. Carver selbst wohnte auf dem Campus und war deshalb für alle Studenten, unabhängig von ihrem Studienfach, zugänglich. Vielen Studenten, besonders denjenigen, die am meisten unter Armut und Diskriminierung litten, versuchte er, seinen festen Glauben an ein gerechtes Universum zu vermitteln. Darum leitete er am Sonntagabend eine Bibelklasse, die in den dreissig Jahren, in denen Carver an der Schule tätig war, gut besucht war.
Obwohl Carver nach 1915 das formale Klassenzimmer aufgab, um sich ganz seiner Forschungstätigkeit zu widmen, blieb er, der selber nie verheiratet war, mit vielen Studenten von Tuskegee in Kontakt. Gegen Ende seines Lebens schrieb Carver in einem Brief an Dana Johnson, einen seiner damaligen Schützlinge, wie viel ihm diese jungen Männer noch immer bedeuteten: «Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meine Jungs denke und mich oft frage, was sie wohl gerade tun.» Er fuhr fort: «Es ist eine solche Inspiration für mich, die Fortschritte zu sehen, die Sie und Ihr Bruder gemacht haben und noch machen … als junge, aufstrebende Bürger, die beim Aufbau dieses grossen amerikanischen Gemeinwesens eine Rolle spielen müssen.»

 

Dreihundert Produkte aus der Erdnuss

Als George W. Carver seine Arbeit im Tuskegee-Institut begonnen hatte, war er sich bewusst, dass seine Lehre und Forschung den hauptsächlich schwarzen Farmern in seiner Umgebung gerecht werden musste. Ein grosses Problem war, dass fast die gesamte Landwirtschaft auf Baumwolle basierte, doch diese Monokultur laugte den Boden zunehmend aus. Carver, der mit einfachsten Mitteln forschte, gelang es dank alternativer Fruchtfolge mit Süsskartoffeln, Erdnüssen und Sojabohnen, die Bodenqualität wiederherzustellen und die Lebensgrundlage der verarmten Bauern zu verbessern. Er fand auch für andere Bereiche der Landwirtschaft ökologische Lösungen: Schweine mit Eicheln zu füttern statt mit teurem «Industriefutter», den Boden mit Sumpfschlamm zu düngen statt mit Chemie. Er entwickelte zusammen mit seinen Schülern ein Wanderlabor und ein Klassenzimmer, mit denen sie durch die Gegend reisten, um Böden zu analysieren und bessere Praktiken zu vermitteln.

Das durchschlagendste Ergebnis von Carvers Fruchtfolge-Strategie war ein Überschuss an Erdnüssen. Um den Markt dafür zu verbessern, entwickelte der Wissenschaftler neue Produkte wie Erdnussmilch, Erdnussbutter und Erdnussöl und fand im Laufe der Jahre rund 300 weitere Verwendungsmöglichkeiten für Erdnüsse (einschliesslich ihrer Schalen) für Kosmetika, Seifen, Salben, Shampoo, Rasierschaum, Papier, Farbstoffe, Metallpolitur, Beize, Klebstoffe, Kunststoffe, Wandplatten und vieles mehr.

 

«Gott hat mir gezeigt, was ich tun soll»

Sein Einsatz für die Erdnuss brachte George W. Carver nationale Anerkennung ein. Ein Schlüsselmoment war seine Rede am 21. Januar 1921 vor dem Ways and Means Committee des US-Repräsentantenhauses in Washington D.C. Ursprünglich hatte Carver nur zehn Minuten Redezeit, aber der Ausschuss war so begeistert, dass der Vorsitzende sagte: «Fahren Sie fort, Ihre Zeit ist unbegrenzt!» Fast zwei Stunden lang erläuterte Carver das Potenzial der Erdnuss und liess dabei auch immer wieder seinen Humor aufblitzen. Am Ende seiner Rede fragte ihn der Vorsitzende, woher er all diese Dinge wisse, und Carver antwortete: «Aus einem alten Buch.» «Aus welchem Buch?», fragte der Vorsitzende. Carver: «Aus der Bibel. Sie erzählt von dem Gott, der die Erdnuss gemacht hat. Ich habe ihn gebeten, mir zu zeigen, was ich mit der Erdnuss tun soll, und er hat es getan.» Natürlich erwähnte Carver neben seiner himmlischen Inspirationsquelle auch seine Ausbildung in Iowa und erzählte von seiner Arbeit im Tuskegee-Institut. Hier arbeitete George W. Carver weiter bis zu seinem Tod im Jahr 1943 und wurde im ganzen Land, insbesondere im armen Süden, bei Fragen der Landwirtschaft zu Rate gezogen. 

 

«Als ich aufwachte, war die Antwort da»

Doch die vielleicht hervorstechendste Eigenschaft von George W. Carvers Persönlichkeit war die eindrückliche Mischung aus kindlichem Gottvertrauen, einem unbeirrten Bewusstsein um seine Berufung und einer schier übermenschlichen Sanftmut gegenüber allen rassistischen Demütigungen. Sein Glaube war geprägt davon, den Schöpfer-Gott als gut anzusehen und das Böse als Folge menschlicher Unfähigkeit, das Gute zu begreifen. Carver liess sich nicht von der äusseren Erscheinung beirren, sondern versuchte, tiefer zu blicken, vor allem, wenn es um Dinge in der Natur ging. Er war der festen Überzeugung, dass Gott in der geschaffenen Welt alles bereitgestellt hatte, was der Mensch brauchte; aber es den Menschen überliess, die guten Geheimnisse zu ergründen, die in jeder Pflanze, jedem Tier und jedem Mineral verborgen waren. Darum war er auch wach für Gottes Gegenwart und empfänglich dafür, dass ihm in seiner Forschungsarbeit neue Erkenntnisse geschenkt würden. Darüber schrieb er einmal in der Rückschau auf seine Kindheit: «Als ich als kleiner Junge die fast unberührten Wälder des alten Carver-Anwesens erkundete, hatte ich den Eindruck, dass jemand vor mir dort gewesen war. Alles war so geordnet, so sauber, so harmonisch schön. Einige Jahre später sollte ich in denselben Wäldern die Bedeutung dieses jungenhaften Eindrucks verstehen. Denn ich war praktisch überwältigt von dem Gefühl einer grossen Gegenwart. Es war nicht nur jemand da gewesen. Jemand war da … Als ich Jahre später in der Heiligen Schrift las: In ihm leben wir und bewegen uns und haben unser Sein (Apostelgeschichte 17,26), wusste ich, was der Schreiber meinte. Seitdem war ich nie mehr ohne dieses Bewusstsein, dass der Schöpfer zu mir spricht … Während ich an Projekten arbeitete, die einem echten menschlichen Bedürfnis dienten, wirkten Kräfte durch mich, die mich erstaunten. Oft schlief ich mit einem scheinbar unlösbaren Problem ein. Als ich aufwachte, war die Antwort da.»

 

Carvers Kardinaltugenden

George W. Carver stellte einmal eine Liste mit acht Tugenden zusammen, die er seinen Schülern mit auf den Weg gab und die seine eigene Einstellung zum Leben zusammenfassen:

  • Sei innerlich und äusserlich rein.
  • Schaue weder zu den Reichen auf noch auf die Armen herab.
  • Verliere, wenn es sein muss, ohne zu jammern.
  • Gewinne, ohne zu prahlen.
  • Sei immer rücksichtsvoll gegenüber Frauen, Kindern und älteren Menschen.
  • Sei zu tapfer, um zu lügen.
  • Sei zu grosszügig, um zu betrügen.
  • Nimm deinen Anteil an der Welt und lass andere ihren Anteil nehmen.
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Text // Peter Höhn Er arbeitet bei Campus für Christus als Referent, Autor und Redaktor. Am liebsten mag er Erdnüsse in Form von Peanut Butter, aber geniesst ihn - damit es etwas Besonderes bleibt- nur im Ausland und im Urlaub.
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