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Angela Schmidt |
Souverän durchs Leben gehen und komplexe Entscheidungen schnell und gut treffen – wer will das nicht können? Doch was leicht tönt, gestaltet sich in der Praxis manchmal harzig. Ein Artikel darüber, was uns heute bei Entscheidungen in die Quere kommen und wie kluges Entscheiden dennoch gelingen kann.
Wir treffen täglich abertausende Entscheidungen, von denen sich die meisten unserem Bewusstsein entziehen: Atmen, kauen, schlucken, einen Fuss vor den anderen setzen – alles Tätigkeiten, die unser Körper intuitiv ausübt, die unseren Biorhythmus aber bereits ordentlich auf Trab halten. Alles, was obendrauf bewusst entschieden werden muss, bedeutet für unseren Organismus und das vegetative Nervensystem zusätzlichen Aufwand. Nehmen wir an, dass die Qual der Wahl noch nie grösser war als in der heutigen Zeit des digitalen Konsums, ist es wenig verwunderlich, dass laut aktuellen Studien mittlerweile neun von zehn Menschen nicht nur im Berufsalltag, sondern auch im Privatleben öfter Entscheidungen aussitzen. Das sind ganz schön viele. Doch die gute Nachricht ist, dass wir der Prokrastination nicht hilflos ausgeliefert sind. Wer die Faktoren und Einflüsse kennt, die einen am fröhlichen Entscheiden hindern, kann aktiv gegen dieses lähmende Gefühl vorgehen und wieder handlungsfähig werden. Was also kann einer guten Entscheidung alles in die Quere kommen? Und welche Methoden und Prinzipien können helfen, uns wieder auf Kurs zu bringen?
Eine psychosoziale Auslegeordnung mit ergänzenden Lifehacks.
Die Kunst des Scheiterns einüben
Stress, Angst und Druck sind die am häufigsten erwähnten Faktoren, wenn es um Unentschlossenheit geht. Wohl deshalb, weil Entscheidungen immer auch mit der Möglichkeit verbunden sind, zu scheitern. Scheitern fühlt sich unangenehm an und wird von unserer erfolgsorientierten Gesellschaft oft nicht gern in die Rechnung mit einbezogen. Mit der Konsequenz, dass manchmal folgenreiche Entscheidungen länger als nötig vor sich hergeschoben oder verdrängt werden, nur um ja keinen Fehltritt zu begehen. Was dagegen helfen kann? Sich einzugestehen, dass ein Leben ohne Misstritte schlicht utopisch ist. Fehler gehören zum Leben dazu. Wer sich mit dieser Tatsache versöhnt, kann lockerer mit den eigenen umgehen und ist gleichzeitig gnädiger mit anderen, wenn ihnen mal ein Patzer unterläuft. Stehen wir ein für eine positive Fehlerkultur, die Momente des Scheiterns nicht als Rückschlag, sondern als wichtiger Teil des eigenen Lernwegs begreift. Üben wir uns in der Kunst des Scheiterns. Z. B. indem wir uns einen Plan B zulegen.
«Plan B»
Das Prinzip des Plan B hilft, mit der Wahrscheinlichkeit des Scheiterns besser umzugehen. Es bedeutet nichts weniger als proaktives Handeln; einen oder auch mehrere Alternativpläne als Trumpf im Ärmel bereit zu haben. Insbesondere bei richtungsweisenden Lebensentscheidungen (z. B. einem Jobwechsel oder Hauskauf) lohnt sich ein Plan B, da wir schlicht nicht alle Faktoren im Vorfeld überschauen, sich die Rahmenbedingungen ändern können oder sich Plan A ganz grundsätzlich als Fehlentscheid entpuppt. Ein Plan B entschärft nicht nur schon im Vorfeld, er federt im Moment des Scheiterns auch besser ab.
Dem Overthinking aktiv entgegenwirken
Nebst der Verdrängung möglicher Fehler gibt es das gegenteilige Phänomen, das aber ebenso lähmend wirkt und uns vom Entscheiden abhält: das «Overthinking». Es beschreibt das überdurchschnittliche und zu lange Nachdenken über Ängste oder Sorgen, das weit über das normale Sich-Gedanken-über-eine-Sache-machen hinausgeht. Fachpersonen beobachten, wie sich das Overthinking, das früher nur partiell bei depressiven Episoden oder Angststörungen vorkam, zu einem flächendeckenden Phänomen entwickelt. Heisst: Wir grübeln zu viel nach. Das macht uns müde, langsam und letzten Endes unproduktiv. Dostojewski hat das schon vor 200 Jahren erkannt: «To think too much is a disease!» – «Zu intensives Nachdenken macht uns krank.» Wer diese Blockiertheit von sich kennt, dem kann der Austausch mit einer Vertrauensperson helfen, seine Sorgen und Ängste wieder in Relation und somit Ordnung in seinen Kopf zu kriegen. Oder aber, er oder sie fängt ganz praktisch mit einem Gedanken-Tagebuch an.
«Gedanken-Tagebuch»
Indem wir die unangenehmen Gedanken, die tagein tagaus durch unseren Kopf schwirren, schriftlich festhalten, können wir die Hemmer respektive Treiber, die uns im freien Entscheiden behindern, besser erkennen. Solche können sein: Perfektionismus, Angst vor persönlicher Verletzung, Versagensangst, Menschenfurcht etc. Sind diese als solche identifiziert, halten wir ihnen ebenfalls schriftlich eine positive, stärkende Gegenstimme entgegen, z. B..: «Mutig sage ich der Menschenfurcht: Das Urteil anderer hat nicht mehr die Kraft, mich zu lähmen, denn ___________________________.»
Ein Ja bedeutet tausendfache Neins
Sich für etwas zu entscheiden, heisst gleichzeitig immer auch, Nein zu einer Vielzahl an möglichen Alternativen zu sagen und somit eine Grenze zu ziehen. Doch diese Grenzziehung fällt oft alles andere als leicht, denn sie bedeutet, all das zu opfern, wofür man sich auch noch hätte begeistern und somit entscheiden können. Bestseller-Autor Oliver Burkeman sagt in seinem Anti-Zeitmanagement-Buch «4000 Wochen»: «Die Bequemlichkeitskultur gaukelt uns vor, dass wir Platz für alles Wichtige finden können, wenn wir nur die lästigen Aufgaben des Lebens eliminieren. Doch das ist eine Lüge. Man muss sich für einige wenige Dinge entscheiden, alles andere opfern und mit dem unvermeidlichen Gefühl des Verlustes umgehen, das damit einhergeht.» In anderen Worten: Entscheiden heisst auch trauern – und das kann unter Umständen ganz schön an die Substanz gehen. Nichts desto trotz bleibt uns nichts anderes übrig, als den Stich im Herzen aushalten zu lernen, den eine Entscheidung in Folge ihrer vielen Anti-Entscheidungen mit sich bringt. Das Ziel wäre es, fröhlich Ja zu Wenig zu sagen und noch überzeugter Nein zu allem anderen, damit wir das, wofür wir uns entscheiden, auch wirklich bewusst auskosten können. Dazu eine Imaginationsübung.
«Mein 70. Geburtstag»
Burkemans «4000 Wochen» entsprechen einem 77 Jahre dauernden Leben. Gehen wir von diesem Durchschnittsalter aus (es liegt zwar bereits etwas höher, wir Frauen liegen beim 83. Altersjahr), wird der letzte runde Geburtstag von den meisten von uns wohl der siebzigste sein. Schön, wer so alt werden darf. Noch schöner, wer zu diesem Zeitpunkt nichts zu bereuen hat und von sich behaupten kann, seine Ziele und Werte mit den besten Absichten verfolgt zu haben. Auf was für ein Leben also wollen wir an unserem 70. Geburtstag zurückschauen? Was möchten wir in einer Ansprache über uns und unser Leben hören? Es könnte sein, dass der retrospektive Blick aus der Zukunft uns massgeblich dabei helfen kann, die wenigen wichtigen Ja’s, die für unser Leben wirklich relevant sind, in der Gegenwart herauszuspüren.
Den Drang zur Selbstverbesserung überwinden
Wir sind Kinder unserer Zeit. Soll heissen, die Zeit, in der wir leben, bestimmt mit ihren spezifischen Dynamiken, Themen und Herausforderungen unser (Entscheidungs-)Verhalten mit. Es lohnt sich daher, ab und zu kritisch hinzuschauen und sich zu fragen, was denn heute als erstrebenswert gilt, und sich in der Folge damit auseinanderzusetzen, in welchen Bereichen wir uns eventuell zu sehr vom «Aussen» – von Meinungen anderer, dem Mainstream etc. – beeinflussen lassen. Die Philosophin Isolde Charim spricht vom «Selbst-zentrierten Narzissmus» als heutigen gesellschaftlichen Treiber und meint damit etwas vereinfacht ausgedrückt das Streben nach der optimierten Version unserer selbst, dem so genannten Ich-Ideal. Das permanente gegenseitige Beobachten und Bewerten anhand von Likes und Rankings konfrontiert uns mit all unseren scheinbar unvollkommenen Bereichen (Aussehen, Fitness, Ernährung etc.), die zu verbessern wir nonstop angehalten werden. Wer auf dieser Basis Entscheidungen trifft, wird wohl nicht so rasch zur Ruhe kommen, denn die Krux ist: Wir werden immer etwas an uns finden, das wir optimieren können. Also, besser noch heute aus der Tretmühle der Selbstverbesserung aussteigen und sich auf Wichtigeres im Leben konzentrieren. Helfen dabei kann die Methode des bewussten Pausierens.
«Entscheidungspausen»
Nachhaltig und im eigenen Interesse zu entscheiden und bewusst Nein zu sagen, fällt nicht immer leicht. Wie also unsere Willenskraft stärken? Indem wir uns bewusst Pausen gönnen, indem wir a) uns vornehmen, nur ausgeschlafen wichtige Entscheidungen zu fällen – unser Hirn funktioniert dann am effizientesten –, b) uns Gewohnheiten aneignen, um so ein ständiges Neu-entscheiden-müssen zu umgehen und c) unser Bauchgefühl ab und an zu Rate ziehen, denn schliesslich basiert es auf jahrelanger Erfahrung und ermöglicht es uns darum, einen komplexen Sachverhalt rasch zu analysieren und Prioritäten zu setzen.
Die Liebe als Haupttreiber
Bevor ich dem Diplomaten und Publizisten Paul Roth das Schlusswort überlasse, mein wichtigster Ratschlag zum Schluss: Ob wir bewusst pausieren, Tagebuch schreiben oder uns ins höhere Alter denken, die treibende Kraft hinter unserem Vorgehen, so rät uns die Bibel (vgl. Lukas 10,27), soll immer die Liebe sein. Uns in allem, was wir tun, an der Liebe zu orientieren, ist das Lebensprinzip schlechthin!
«Die Checkfrage»
Egal, um welche Entscheidung es sich handelt, diese unschlagbare Frage gibt die nötige Orientierung: «Setzt meine Entscheidung Liebe – gegenüber Gott, mir, meinen Mitmenschen – frei?»
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