Von Chancen und Fallen

von Martin Benz

Vorbilder vermögen uns wie nichts anderes in Bewegung setzen und zu Höchstleistungen anspornen, können andererseits mitunter auch überfordern, irritieren und enttäuschen. Mit beidem müssen wir uns auseinandersetzen. Um schlussendlich unseren eigenen Weg zu finden.

25.08.2021

Dass wir uns von Eigenschaften, Fähigkeiten oder der Rolle anderer Menschen inspirieren und motivieren lassen, ist für unsere persönliche Entwicklung eine unschätzbare Ressource. Doch ebenso wichtig ist, dass wir einen reifen Umgang mit unseren Vorbildern lernen.

Vorbilder wecken unsere Sehnsucht

Seit meiner Kindheit bis heute spielen Vorbilder in meinem Leben eine wichtige Rolle. Wobei es in meinen Teenagerjahren (jetzt darf man an die 1980er-Jahre denken) wahrscheinlich die höchste Dichte davon gab: Da war der Mitschüler, dessen Beliebtheit und Rolle als Klassenclown ich bewunderte – und das eine oder andere imitierte ich zum Leidwesen meiner Lehrer. Da gab es den Jugendkreisleiter, der seine Bibel so gut kannte und dessen Quantität und Qualität der stillen Zeit mir zum Vorbild wurde. Da war der Referent, der mich auf unseren Jugendfreizeiten mit seinem missionarischen Eifer faszinierte und dessen Kühnheit und Unverfrorenheit ich mir zum Vorbild nahm. Da war der charismatische Pastor, in dessen Wohnzimmer ich die ersten Erfahrungen mit dem Heiligen Geist machte und der für viele Jahre mein Mentor wurde. Und da gab es den Schlagzeuger der legendären Resurrection Band, der mir zum Vorbild wurde, als ich in diesen Jahren selbst Schlagzeug lernte.
Vorbilder wecken in uns eine Sehnsucht. Was wir an oder mit ihnen erleben, erzeugt Wünsche für das eigene Leben. Vorbildern geben wir die Erlaubnis, uns zur Erreichung bestimmter Ziele herauszufordern, damit wir darüber nachdenken und ihnen nacheifern. Sie setzen in Bewegung und helfen uns, über uns hinauszuwachsen. Vorbilder haben diese erstaunliche Kraft, von aussen in unsere innerste Motivation und Entschlossenheit hineinzuwirken. Vorbilder eröffnen uns Horizonte, zeigen was möglich ist, spornen uns an, zeigen einen Weg auf. Vorbilder weisen damit über uns selbst hinaus und verschaffen uns einen Eindruck davon, wonach man sich ausstrecken könnte.

Vorbilder formen uns

Vorbilder motivieren aber nicht nur, sie formen auch etwas in uns. Sie sind Teil des Gestaltungsprozesses unseres Herzens und unserer Fähigkeiten. So beobachte ich die besondere Begabung eines Menschen und etwas in mir sagt: Das möchte ich auch können! Ich nehme die positive Charaktereigenschaft eines anderen wahr und sehne mich nach der gleichen charakterlichen Stärke oder Feinheit. Und so wird aus der Bewunderung die Arbeit an mir selbst. Ich beginne, an dieser Fähigkeit, die ich am anderen bewundere, zu arbeiten. Ich übe mich an dieser Charaktereigenschaft, die mir so positiv aufgefallen ist.
Im Vergleich zu einer inspirierenden Begegnung werden Vorbilder eher zum Orientierungspunkt. Ich blicke immer wieder in ihre Richtung. Ihr Einfluss ist kein einmaliges Ereignis, sondern wiederholt sich. Am Anfang wecken sie unsere Sehnsucht und später erhalten sie diese Sehnsucht aufrecht.
Inspiration oder Imitation
Aber genau hier kann auch die Gefahr von Vorbildern liegen: Wir geben ihnen ein Stück Macht über unser Innenleben. Schlimmstenfalls führt es dazu, dass ich mehr und mehr fremdbestimmt werde. Statt durch die Hilfe eines Vorbildes meine eigene Sehnsucht zu entdecken und meine eigenen Ziele zu formulieren, beginne ich das Leben oder die Spiritualität anderer zu imitieren. Vorbilder sollen uns inspirieren, wir sollten sie nicht imitieren. Inspiration macht unser Innenleben reicher, Imitation lässt unser Potenzial verarmen.
Gute Vorbilder wissen um diese Gefahr. Sie wollen Räume öffnen und nicht einengen. Ihre persönliche Klarheit setzt andere nicht unter Druck. Sie freuen sich darüber, Orientierungspunkt zu sein, und weigern sich, Fixpunkt zu werden.

Vorbilder und Neid

Nun lösen aber positive Charaktereigenschaften, besondere Fähigkeiten oder das geglückte Leben anderer nicht nur unsere Bewunderung aus. Manchmal geschieht das Gegenteil. Statt Bewunderung entsteht Neid. Neid erzeugt Abwehrmechanismen. Der liebevolle Charakter, die Fähigkeit, sich gut auszudrücken, oder das glückliche Familienleben, das ich bei anderen wahrnehme, erscheinen irgendwie unerreichbar. Und so entwickelt sich der andere nicht zum Vorbild, es geht keine motivierende Kraft von ihm aus, sondern der Neid verlangt danach, das insgeheim Bewunderte abzuwerten und schlecht zu machen! Was ich eigentlich wünsche, ist mir beim anderen plötzlich unsympathisch.
In der Bibel wird uns dieser Mechanismus immer wieder vor Augen gestellt. Am deutlichsten vielleicht zwischen König Saul und David. Aus der anfänglichen Wertschätzung wird am Ende purer Neid. Und was ich beneide, kann konsequenterweise nicht mehr erstrebenswertes Ziel sein, sondern wird zum Feind. Damit beraubt uns der Neid ganz vieler Möglichkeiten und Optionen. Der Neid tabuisiert dann gewissermassen bestimmte Wünsche und Ziele, nur weil sie ein anderer vielleicht besser verwirklichen kann als ich selbst.
Das entscheidende Gegenmittel für den Neid ist die Fähigkeit, anderen etwas gönnen zu können. Das Gönnen sollten wir unbedingt trainieren, denn wir werden immer wieder in Situationen kommen, wo wir jemand anderen als Gesegneten, Beschenkten, Begabten oder Fähigeren als uns selbst erleben. Wer anderen etwas gönnen kann, kann sich über ihre Fähigkeiten mitfreuen, erlebt sie nicht als Bedrohung, sondern kann sie positiv in die eigene Motivation und Zielsetzung integrieren. Nur so entstehen Vorbilder statt Feindbilder!

Vorbilder und Enttäuschung

Leider erleben wir es in regelmässigen Abständen, dass Menschen, die für uns und viele andere als Vorbild gedient haben, von ihrem Sockel stürzen. Man hat ihre Predigten geliebt, ihre Lieder gesungen, ihre Podcasts gehört, ihre Leiterkonferenzen besucht, sich an ihren Gemeinden orientiert, ihre Integrität, ihre Ehe oder ihr Familienleben bewundert. Und plötzlich kommen – meist unfreiwillig – ihr Fehlverhalten, ihr sexueller oder geistlicher Missbrauch, ihre Finanzskandale, ihr Ehebruch, ihr unmoralischer Lebensstil oder Ähnliches ans Licht. Schockiert stellen wir fest, dass diese Personen weit hinter dem zurückgeblieben sind, was sie selbst verkündigt oder eingefordert haben. Es bleibt das dumpfe Gefühl der Ernüchterung. Man wurde von ihnen getäuscht und man hat sich in ihnen getäuscht. Es scheint fast so, als ob mit ihrem Sturz auch die eigenen Ziele, Absichten und Hoffnungen einstürzten. Wenn dieser Mensch in Wirklichkeit so war, wie steht es dann um seine Leiterschaft, seinen Gemeindebauansatz, die Prinzipien in seinem Ehebuch oder die von ihm praktizierten Geistesgaben? Was bleibt davon übrig? Ist mit dem Fall des Vorbildes auch alles andere verloren? Muss man nun alles vergessen, was Bill Hybels jemals auf einem Leitungskongress gesagt hat, und macht es noch Sinn, ein Buch von Ravi Zacharias weiterzugeben?
Enttäuschung sät Misstrauen. Die Skandale um berühmte Personen beschädigen die grundlegende Glaubwürdigkeit von Vorbildern. Schnell schleicht sich der Gedanke ein, dass vielleicht bei diesem oder jenem bekannten Vorbild auch noch irgendwelche Leichen im Keller liegen. Und im schlimmsten Fall verabschiedet man sich ganz von der Idee der Vorbilder. Bei Politikern und Managern hat man sich irgendwo damit abgefunden, dass Sein und Schein weit auseinanderklaffen. Aber unter uns Christen hat man irgendwie auf andere Zustände gehofft.

Das Stigma des Unverzeihlichen

Ich persönlich plädiere für eine Längsschnittmentalität. Es gibt einen Unterschied, ob man den Querschnitt eines Menschen nimmt oder den Längsschnitt. Der Querschnitt ist eine Momentaufnahme. Wie steht es um die Integrität eines Menschen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Und dieser eine Zeitpunkt entscheidet dann über die gesamte Glaubwürdigkeit eines Menschen. Der Längsschnitt hingegen zieht das gesamte Leben in Betracht. Das einzelne Fehlverhalten, der einzelne Vorfall zerstört nicht das gesamte Lebenswerk.
Ich ärgere mich immer wieder, wenn ein fähiger Politiker wegen irgendeiner Fehlentscheidung oder einer unsauberen Doktorarbeit zurücktreten muss. Ein klarer Fehler, eine einzige Sünde diskreditiert den gesamten Menschen. Sie bekommen das Stigma des Unverzeihlichen. Warum ist Rücktritt unsere einzige Antwort auf Scheitern? Warum genügt es nicht mehr, von ganzem Herzen um Verzeihung zu bitten? Wenn Scheitern mit der Zerstörung der gesamten Biografie einhergeht, gibt es irgendwann keine Vorbilder mehr – oder nur noch Heuchler.
Wenn sich allerdings im Längsschnitt zeigt, dass ein Fehlverhalten das ganze Leben durchzieht, ist nicht nur der Moment verdorben, sondern tatsächlich die Biografie beschädigt. Die so wichtige Umkehr ist dann auf der Strecke geblieben.
Ich musste einmal am eigenen Leib erleben, was es bedeutet, wenn eine einzelne Predigt, mit deren Inhalt andere Pastoren in der Stadt nicht einverstanden waren, meinen gesamten Ruf als Prediger ruiniert. Egal was man 20 Jahre lang gepredigt hatte, diese eine Predigt führte dazu den Kanzeltausch mit mir zu verweigern.

Überforderte Vorbilder

Enttäuschung über Vorbilder kann aber noch ganz andere Ursachen haben. Es ist gut möglich, dass Vorbilder nicht hinter dem zurückbleiben, was sie selbst behaupten, sondern hinter dem, was wir in sie hineinprojizieren. Zwar erfüllt die Person durchaus ihre eigenen Ansprüche, aber sie erfüllt nicht meine Ansprüche. Und hier kann es geschehen, dass Personen überfordert sind von meinen Ansprüchen an ihr Vorbild. Weil ich im anderen etwas verwirklicht sehen wollte, von dem ich überzeugt war, dass es die Welt oder die Stadt oder unsere Kirche dringend braucht. In Wahrheit war nicht der Mensch, so wie er ist, ein Vorbild, sondern ich habe vielmehr in ihn mein Idealbild einer bestimmten Rolle oder Eigenschaft hineinprojiziert, mit der Hoffnung, diese nun personalisiert vor mir zu haben. Hier verzerrt sich die Idee vom Vorbild zum Idol. Man bewundert nicht länger, was ist, sondern was sein sollte. Es ist diese gefährliche Überhöhung eines Menschen, bei der die Schattenseiten so lange wie möglich ausgeblendet werden, damit die auf ihn projizierten Eigenschaften umso heller leuchten. Ganz fatal wird es, wenn ein Vorbild diese Projektion dankbar entgegennimmt und damit sein Ego aufpoliert. Gut konnten wir diese fatale Überhöhung beim letzten amerikanischen Präsidenten beobachten.
Aber auch bei milderen Verläufen kann die Erwartungshaltung anderer für Vorbilder zu einer Falle werden. Man spürt, dass die Rolle als Vorbild eng verbunden ist mit den Erwartungen der Menschen. Um deren Respekt und Achtung nicht zu verlieren, ist man versucht, am Ende mehr das Image zu pflegen als die Realität. Man trägt Masken und führt ein Doppelleben, um all den Erwartungen gerecht zu werden, selbst wenn man innerlich an ihnen schon längst gescheitert ist. Was bleibt, ist die Aufrechterhaltung einer Rolle, die inzwischen zum identitätsstiftenden Merkmal der eigenen ausgehöhlten Persönlichkeit wurde.

Selbst ein Vorbild sein?

Wir alle sind damit vertraut, Vorbilder zu haben. Im besten Fall inspirieren sie uns, machen uns leidenschaftlich, eröffnen uns Spielraum und schenken uns Orientierung. Aber wie sieht es damit aus, selbst für andere ein Vorbild zu sein? So manch einer weist diesen Gedanken weit von sich. Er löst regelrecht Ängste aus. Dahinter steckt zum einen ganz oft eine mangelhafte Selbstwertschätzung. Aber ich kann andere nur wertschätzen, wenn ich mich selbst wertschätzen kann. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Wo diese Selbstwertschätzung fehlt, fällt es schwer, die eigenen Eigenschaften oder Fähigkeiten zu würdigen. Manch einer findet sich selbst, seine Begabungen oder sein Können so gewöhnlich, so mittelmässig oder gar mangelhaft, dass es ihm nie in den Sinn kommen würde, damit jemals Vorbild zu sein. Am Ende führt diese mangelnde Selbstwertschätzung zur dauerhaften Selbsteinschränkung. Ich beraube mich der Möglichkeit, andere zu inspirieren, weil ich mich selbst in den Niederungen der Banalität verortet habe.
Zum anderen setzt der Gedanke, Vorbild zu sein, viele Menschen furchtbar unter Druck. Weil sie den Eindruck haben, nicht zu schaffen, was man als Vorbild tun müsste, oder der Rolle als Vorbild nicht gerecht zu werden, wird jede Entwicklung in Richtung Vorbild zur Belastung. Statt sich darüber zu freuen, dass andere Menschen dies oder jenes vorbildlich an mir finden, denke ich nur noch darüber nach, sie in Zukunft nicht zu enttäuschen oder zu vermeiden, dass sie meiner Mittelmässigkeit doch noch auf die Schliche kommen. Am Ende zieht man sich zurück, um in der Unscheinbarkeit dem Druck aus dem Weg zu gehen.
Aber vielleicht sind gerade meine Normalität, meine Treue trotz der Mittelmässigkeit, meine Experimentierfreudigkeit, mein Wuchern mit dem einen Pfund, das ich habe, genau die Dinge, die mich für andere zum Vorbild machen. Ich muss nicht dauernd und nicht mit meinem ganzen Leben und meiner gesamten Biografie ein Vorbild sein. Diesen Teil können wir getrost Jesus überlassen. Wir dürfen uns von Herzen darüber freuen, wenn wir Menschen in diesem oder jenem Bereich inspirieren dürfen.

Zur Person:
Martin Benz ist Theologe, Ehemann und Familienvater von drei erwachsenen und zwei Vorschulkindern, Pastor (1993–2018 Vineyard Basel; seit 2019 ELIA-Gemeinde Erlangen) und daneben als Songwriter (Live-CD mit eigenen Songs), Buchautor («Wenn der Geist fällt» 1995; «Filterwechsel» 2018) sowie als Blogger (movecast.de) tätig.

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Text // Martin Benz
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