von |
Leonardo Iantorno |
Es gibt Tage, an denen frage ich mich schon, woran Gott eigentlich Freude hat. Was wünscht er sich von mir und von meinem Leben? Was erwartet Gott von mir? Je nach Persönlichkeit und Tagesform können die Antworten auf diese Fragen sehr unterschiedlich ausfallen.
Die Vorstellung darüber, was Gott von mir erwartet, hängt einerseits stark von unserem Selbstverständnis und unserem Selbstvertrauen ab, andererseits offenbaren unsere Antworten auf diese Fragen einiges über die Gottesbilder, denen wir glauben.
So beginnt ein altes Kirchenlied von Paul Gerhardt, und es verkörpert die Sehnsucht, Gott zu begegnen. Ein Anliegen, mit dem sich schon viel früher, vor über 2700 Jahren, der Prophet Micha herumschlug. Allerdings scheint er schon damals verstanden zu haben, dass wir uns dabei oft selbst im Weg stehen:
«Womit soll ich vor den HERRN treten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich vor ihn treten mit Brandopfern, mit einjährigen Kälbern? Wird der HERR Gefallen haben an Tausenden von Widdern, an Zehntausenden von Bächen Öls? Soll ich meinen Erstgeborenen geben für mein Vergehen, die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Seele?» Micha 6,6–7 (EÜ)
Micha übertreibt. Seine rhetorischen Fragen lassen eigentlich keinen Zweifel daran, dass Gott sich diese Dinge nicht wirklich von uns wünscht. Trotzdem beobachte ich bei mir allzu oft, wie ich Gott unterstelle, dass er auf irgendwelche Konventionen, christliche Regeln und Gebote fixiert sei. Und meine Aufgabe nun darin bestehe, all diese Dinge einzuhalten und in Ehren zu halten. Dabei glaube ich das eigentlich selbst nicht.
Die Bibel erzählt die lange Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung und den Menschen. Immer wieder hat Gott uns Menschen Ordnungen und Möglichkeiten mit auf den Weg gegeben, damit wir ihm begegnen und unser Leben meistern können. Wir Menschen geben uns Mühe, diese Ordnungen in unser Leben einzugliedern und Formen zu finden. Wir wollen es «recht» machen. Dabei lehrt uns die Geschichte, dass aus der guten Ansicht und sogar aus guten Dingen allerdings immer wieder Gesetzlichkeiten geworden sind, mit denen wir uns selbst kaputtmachen und letztendlich das Ziel aus den Augen verlieren.
Trotzdem versuchen wir immer wieder, es «recht» zu machen und Gott so zu begegnen, damit er uns hört. Die Dinge «recht» machen zu wollen bedeutet aber nicht, dass sie auch gerechter sind, uns tatsächlich weiterhelfen und zum Leben dienen können. Hier hilft Gott in seiner Antwort an Micha weiter, und was er sagt, ist eindeutig:
Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott. – Micha 6,8 (EÜ)
Kann es so einfach sein? Recht tun, Güte lieben und achtsam mit Gott mitgehen? Doch es heisst: Das ist gut und es ist das, was Gott von uns erwartet. Dabei ist auch die Reihenfolge interessant. Das hebräische Wort mischpat bedeutet so viel wie «Recht üben», «Recht einhalten» oder einfach «Recht (aus)sprechen». Wir sind dazu berufen, mit anderen (und auch uns selbst) recht umzugehen, und das tun wir immer dort, wo wir Güte zeigen, Liebe teilen und das im Glauben an den einen Gott tun, der uns zu diesem «Rechttun» befähigt.
Doch wie soll das praktisch geschehen? – Denn es ist bekanntlich leicht, über Gerechtigkeit nachzudenken und zu reden, und gleichzeitig ist es so viel schwerer, sie ganz konkret in unserem Alltag zu leben. – Die schlichte Antwort: Indem wir zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit trachten (Matthäus 6,33). Es geht um eine neue Realität des Miteinanders unter der Herrschaft Gottes, und genau das hat Jesus vorgelebt. Als man eine Ehebrecherin vor ihn führt (Johannes 8,1–11), beharrt er nicht auf dem Gesetzesbuchstaben wie die Ankläger. Er spricht das Problem an, aber Jesus geht auf die Frau ein, nimmt sie ernst und findet einen Weg, damit Gerechtigkeit lebendig und fassbar wird.
Jesus begegnete den Menschen ohne eine vorgefertigte Meinung oder Vorurteilen, und gleichzeitig konnte er sich von falschen Erwartungen anderer abgrenzen. Sein Vorbild ermutigt, und es fordert uns heraus, uns aufeinander einzulassen (vgl. 1. Petrus 2,21) und uns konsequent von Jesus her zu fragen und zu prüfen: Wie begegne ich den Menschen, mit denen ich täglich zu tun habe? Welche Vorurteile prägen mein Verhalten im Umgang mit anderen? Welche Möglichkeiten habe ich, den Menschen um mich herum gerecht zu werden und ihnen zum Recht zu verhelfen? Güte zu lieben bedeutet eben auch, anderen Gutes nicht nur zu wünschen, sondern es auch zu tun, soweit es in meiner Macht liegt. Und so ist Gerechtigkeit auch (m)eine tägliche Entscheidung.
Dabei unterschätzen wir unsere Möglichkeiten und suchen oft zu weit. Meist fängt es ganz einfach damit an:
«Vergesst nicht, Gutes zu tun und mit anderen zu teilen. Das sind die Opfer, an denen Gott Gefallen hat.» – Hebräer 13,16 (EÜ)
Gutes tun und das, was ich bin und habe, mit anderen zu teilen – das klingt so einfach und fordert mich trotzdem täglich heraus. Denn das Gute ist selten abstrakt und meistens sehr praktisch: ein freundliches Wort, geschenkte Zeit, ein offenes Ohr, ein Blick über den eigenen Tellerrand – das sind konkrete Schritte, wie wir unser Miteinander gerechter gestalten können.
Micha wird von Gott daran erinnert, wie wichtig es ist, an ihm dranzubleiben und ihm «achtsam» zu folgen. Im Zentrum steht das Hören lernen auf Gottes Stimme und dann auch das Tun, was ich von Gott mitbekomme. Wo ich so an Gott dranbleibe, wird er durch mich andere ermutigen, aufbauen und trösten, und so nehmen Gottes Gerechtigkeit und seine Güte in unserem Zusammenleben prophetisch Gestalt an (vgl. 1. Korinther 14,3).
Gott wünscht sich nicht ein Leben voller Opfer, die ihm unsere Hingabe beweisen sollen, sondern er hat Freude daran, wenn wir selbst grosszügige «Opfer voller Leben» sind (vgl. Römer 12,1–2). Unser ganzes Leben soll ein Ausdruck unserer Hingabe an Gott und für seine gerechte Sache sein. Dort nimmt sein Reich Gestalt an, und es wird für unsere Mitmenschen und die ganze Gesellschaft immer neu zeichenhaft sichtbar.
Von Leonardo Iantorno in der Ausgabe: 4/2020
„*“ zeigt erforderliche Felder an